Die USA waren lange Zeit ein wichtiger und verlässlicher Partner für Europa. 1949 gründeten sie gemeinsam mit elf weiteren Staaten die NATO als Sicherheits- und Verteidigungsbündnis angesichts der Bedrohung durch die Expansion der Sowjetunion. In den letzten Wochen hat Donald Trump Artikel 5 des NATO-Vertrags mehrfach in Frage gestellt. Sein Vertrauter Elon Musk forderte gar den Austritt der USA aus dem Bündnis. Was bedeutet das für Europa?
Paul Gragl: Artikel 5 besagt, dass wenn ein Verbündeter angegriffen wird, dieser Staat – nach einstimmigem Beschluss aller Mitglieder – die Beistandsklausel aktivieren kann. Damit sind alle Partner verpflichtet, dem angegriffenen Land zu Hilfe zu kommen. Ironie der Geschichte: Bisher ist das erst einmal passiert, 2001 nach 9/11. Da haben die USA die Beistandsklausel aktiviert. In der Folge sind auch britische, deutsche, dänische und kanadische Soldaten in Afghanistan gestorben. Für Europa bedeutet ein Rückzug der Vereinigten Staaten aus der NATO natürlich eine Schwächung, was Sicherheit und Verteidigung betrifft. Die USA sind das militärische Schwergewicht in diesem Bündnis.
Kann ein US-Präsident – rechtlich betrachtet – alleine entscheiden, ob sein Land die NATO verlässt oder die Beistandspflicht ignoriert wird?
Gragl: Während Trumps erster Amtszeit wurde ein Gesetz beschlossen, das die Frage eines Austritts aus der NATO regeln soll. Die Rechtslage ist allerdings nicht ganz klar. Die meisten Jurist:innen gehen davon aus, dass dafür eine Zweidrittelmehrheit im Kongress notwendig ist. Wenn Trump aber öffentlich – an Putin gerichtet – sagt, dass er die Beistandsklausel ignorieren wird, dann ist das Recht nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben steht.
Welche Möglichkeiten hat Europa, die nun entstehende Sicherheitslücke zu füllen?
Gragl: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit „ReArm Europe“ einen Plan vorgestellt, mit dem die Mitgliedsstaaten bis zu 800 Milliarden Euro für Ausgaben in Verteidigung und Rüstungsgüter mobilisieren könnten. Dafür sollen die Kriterien für die Staatsverschuldung gelockert werden. In Deutschland hat Friedrich Merz angekündigt, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse aufgehoben werden soll, um die für die Aufrüstung notwendigen Investitionen zu ermöglichen. Da kommt einiges in Bewegung. Europa scheint den Ernst der Lage erkannt zu haben. Das hoffe ich. Ein positiver Trump-Effekt ist, dass sich das Vereinigte Königreich – traditionell immer die Brücke zu den USA – Europa wieder stärker annähert. Das Verhalten des US-Präsidenten führt offenbar dazu, dass seine Unterstützung in Europa bröckelt. Marine Le Pen etwa, ehemals große Anhängerin Trumps, bezeichnete den Entzug der Hilfe für die Ukraine als grausam.
Aber ist für ein Europa, das sich erfolgreich verteidigen kann, nicht mehr nötig als nur Aufrüstung?
Gragl: Die Mittel sind da. Europa ist volkswirtschaftlich und bevölkerungstechnisch viel stärker als Russland. Woran es mangelt, ist die Koordination im militärischen Bereich. Deshalb wird an der Verteidigungsunion gearbeitet. Doch dafür braucht es Einstimmigkeit. Und es ist absehbar, dass sich Ungarn und die Slowakei querlegen werden. Eher realisierbar erscheint mir ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen jenen Mitgliedsstaaten, die sich auf eine verstärkte Zusammenarbeit einigen, um die Verteidigungsunion voranzutreiben. Derzeit gibt es keine gemeinsame Beschaffung von Material. Das, was die Staaten haben, ist zum Teil nicht kompatibel. Man müsste die Waffensysteme harmonisieren. Ein erster Schritt ist die Initiative Skyshield zum Aufbau eines gemeinsamen Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsystems. Daran kann sich auch Österreich beteiligen, solange es die Kontrolle über das Abfeuern behält. Da gibt es keinen Konflikt mit der Neutralität, wie von gewissen Politiker:innen behauptet wird. Ich halte es generell für wichtig, auf die eigene Rüstungsindustrie zu setzen. Denn wenn wir amerikanische Kampfjets haben, könnten die von den USA im Fernmodus abgeschaltet werden. Was uns allerdings fehlt, ist die geheimdienstliche Aufklärung. Hoffentlich helfen uns da die Briten.
Sind in der EU bereits Strukturen vorhanden, auf denen eine Verteidigungsunion aufbauen kann?
Gragl: Es gibt eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In deren Rahmen fanden in der Vergangenheit Auslandseinsätze statt, etwa die Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX im Kosovo oder die Militäraktion Atalanta gegen Piraten vor Somalia. Einige Mitgliedsstaaten haben sich bereits auf eine verstärkte Zusammenarbeit im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich geeinigt, kurz PESCO für Permanent Structured Cooperation. Auch der Hohe Repräsentant für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU kann koordinierend und initiierend wirken. Letztlich aber liegt es an den Mitgliedsstaaten, ob sie zustimmen oder nicht.
Außerhalb der Unionsstrukturen gibt es noch die Systeme der NATO, der bis auf Österreich, Irland, Malta und Zypern alle EU-Mitglieder angehören.
Mit seiner wiederholt geäußerten Absicht, Grönland zu übernehmen, macht Donald Trump klar, dass bei ihm Macht vor Recht kommt. Was kann die EU dagegen unternehmen?
Gragl: Allein Gewalt anzudrohen, um Grönland zu annektieren, ist schon völkerrechtswidrig. Militärisch hätte man aber vergleichsweise wenig entgegenzusetzen. Allerdings wäre es wohl auch für die Großmacht USA nicht einfach, ein Land gegen den Widerstand der Bevölkerung zu übernehmen. Grönland ist ein autonomer Teil des Königreichs Dänemark. Würden die USA Grönland überfallen, könnte Dänemark gleich zwei Beistandsklauseln aktivieren, nach Artikel 5 des NATO-Vertrags sowie nach Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union. Letzterer besagt, dass im Falle eines Angriffs auf EU-Territorium die Mitgliedsstaaten einander helfen müssen, wobei das keine militärische Unterstützung sein muss. Für Österreich gilt die unionsrechtliche Pflicht zum Bündnisfall aufgrund der Neutralität nicht. Wir können aber humanitäre Hilfe leisten. Unabhängig davon hat, laut Völkerrecht, jeder Staat das Recht auf Selbstverteidigung, und alle dürfen einem angegriffenen Land dabei kollektiv helfen, so wie etwa der Ukraine.
Trump hat versprochen, den Krieg in der Ukraine rasch zu beenden. Anfangs schien es, als wolle der US-Präsident einen Deal mit Putin machen, ohne das angegriffene Land überhaupt einzubeziehen. Was sagt das Völkerrecht dazu?
Gragl: Im Völkerrecht gibt es das Prinzip der souveränen Gleichheit. Jeder Staat ist rechtlich gleich viel wert. Die USA oder Russland können also nicht über die Ukraine verhandeln. Das Völkerrecht sagt auch: Staaten können niemals zu Lasten eines anderen einen Vertrag schließen. Wenn also Russland und die USA dies täten, dann würde dieser Vertrag für die Ukraine einfach nicht gelten.
Mittlerweile gab es Verhandlungen über einen Waffenstillstand, in die auch die Ukraine eingebunden ist. Europa solle sich zukünftig, so will es Trump, um die Sicherheit des Landes kümmern. Großbritannien und Frankreich wollen Friedenstruppen stellen. Welche Möglichkeiten hat Europa, sich für die Ukraine stark zu machen?
Gragl: Bereits 2014 hat die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet. Das umfasst aber keine Beistandspflicht. Deshalb drängt die Ukraine auf einen EU- und NATO-Beitritt. Für beide braucht es Einstimmigkeit unter den Mitgliedsstaaten. Bei der NATO sperren sich die USA, Deutschland – vielleicht unter einem Bundeskanzler Merz zukünftig nicht mehr –, Ungarn und die Slowakei. Letztere auch beim EU-Beitritt. Was aber möglich ist, sind bilaterale Sicherheitsgarantien mit einzelnen Ländern. Wenn es einen Waffenstillstand gibt und Putin ihn verletzt, würden diese zum Tragen kommen. Dann könnten zum Beispiel französische und britische Bodentruppen einschreiten. Das könnte natürlich einen direkten Konflikt mit Russland bedeuten und wäre daher mit einem hohen Risiko verbunden.
Immer wieder gab es ja auch Diskussionen, eingefrorene russische Gelder der Ukraine zukommen zu lassen. Gibt es diesbezüglich neue Entwicklungen?
Gragl: Im Zuge der Sanktionen wurden verschiedene Vermögenswerte eingefroren, von der russischen Zentralbank und auch von Oligarchen, wenn bekannt war, dass sie Putin oder den Kreml unterstützen. Weil es ein Recht auf Eigentum gibt und die Union nicht grundrechtswidrig agiert, kann sie darüber aber nicht frei verfügen. Nun ist eine neue Richtlinie in Kraft getreten. Sie besagt: Wenn mit Vermögenswerten Sanktionen umgangen werden, dann sind sie Tatwerkzeuge, die strafrechtlich eingezogen werden dürfen. Wenn es also zum Beispiel ein Oligarch schafft, mit seiner festgesetzten Yacht aus dem Hafen von Portofino auszulaufen, und dann von der italienischen Küstenwache angehalten wird, ist sein Schiff ein Tatwerkzeug. Daher darf es konfisziert und versteigert werden, und der Gewinn kann der Ukraine zukommen. Bei den Geldern der russischen Zentralbank ist das nicht möglich, weil die durch das Recht der staatlichen Immunität geschützt sind. Nur die Zinsen, die sie abwerfen, können eingezogen werden.
Im Sommersemester bieten Sie erstmals das Seminar „European Security Law“ an. Das betrifft die Sicherheit und Verteidigungspolitik der EU. Wie sehen Sie die Zukunft?
Gragl: Ich hätte lieber ein Seminar zu Friedenstheorien gehalten, niemand von uns will Krieg. Ich sehe die Aufrüstung der EU als Abwehr des Krieges. Im Lateinischen gibt es den Spruch „Si vis pacem para bellum“: Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor. Putin versteht keine andere Sprache. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Zwischen 2014 und 2022 gab es zirka 20 Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland und der Ukraine. Putin hat jedes gebrochen. Wiederholt drohte er auch den baltischen Staaten. Das muss man ernst nehmen. Wir haben die Möglichkeit, uns jetzt anzustrengen und einen großen Krieg zu vermeiden, oder wir machen es uns bequem, dann müssen wir mit der Knechtschaft leben. Ich bin hoffnungsvoll optimistisch, dass Europa den Ernst der Lage erkannt hat.
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