REWI: Die REWI-Fakultät durfte Sie am 1. September als Praxisprofessor am Institut für Europarecht herzlich willkommen heißen. Aus welchem Bereich der juristischen Praxis stammen Sie?
Marcus Klamert: Ich habe nach dem Studium in einer internationalen Anwaltskanzlei gearbeitet und dann auch die Anwaltsprüfung abgelegt. In den letzten Jahren war ich jedoch einerseits ein Jahr in Brüssel für die Europäische Kommission tätig und dann nunmehr seit bereits sechs Jahren im Bundeskanzleramt, davon die meiste Zeit im Verfassungsdienst. Ich konnte somit sowohl die europäische Verwaltung und Gesetzgebung als auch die nationale, österreichische Perspektive kennenlernen.
REWI: Sie haben auch bereits wissenschaftlich sehr viel gearbeitet. Wo setz(t)en Sie in Ihrer Forschung Schwerpunkte?
Marcus Klamert: Der Schwerpunkt meiner Forschung ist wohl das Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht. Meine Dissertation befasste sich mit der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts. Meine Habilitationsschrift behandelte das Loyalitätsprinzip, somit das für dieses Verhältnis zentrale Prinzip des Unionsrechts. Ich habe jedoch auch zum Solidaritätsprinzip, etwa im Kontext mit der Finanzkrise, publiziert, und beschäftige mich immer wieder mit dem europäischen Außenwirtschaftsrecht und mit dem Recht der Außenbeziehungen der Europäischen Union generell.
REWI: Wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung der EU? Welche großen Herausforderungen sehen Sie auf die EU in der nächsten Zeit zukommen?
Marcus Klamert: Ich war immer ein Optimist, was die Entwicklung der EU betrifft. Sie ist bisher aus allen Krisen „gestärkt“ hervorgegangen. So könnte etwa eine Folge der Corona-Krise sein, dass der EU in Zukunft mehr Befugnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit übertragen werden. Aber die Herausforderungen sind natürlich enorm: Die EU basiert auf einer gewissen Homogenität der Mitgliedstaaten nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch was die Haltung zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit anbelangt und einem darauf gestützten gegenseitigen Vertrauen. Dies scheint derzeit durch die Positionen einiger Mitgliedstaaten in Frage gestellt. Unterschiede gab es immer schon, etwa in Hinblick auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand der Mitgliedstaaten oder auf die unterschiedlichen Wünsche für die Entwicklung der EU zwischen mehr Vertiefung einerseits und Erweiterung andererseits. Diese Unterschiede konnte man ganz gut durch finanzielle Unterstützung für die schwächeren Mitgliedstaaten sowie durch „A-la-carte“-Integrationsmechanismen ausgleichen. Die nunmehr zu Tage tretenden Unterschiede sind jedoch grundsätzlicher und eine tragfähige Lösung zu finden scheint bisher schwierig.
REWI: Am 12. Oktober geht es bereits mir Ihrer ersten REWI-Lehrveranstaltung Europarecht in der Praxis – Tabakregulierung, „Ausländermaut“ und Brexit los. Was erwartet Studierende in dieser?
Marcus Klamert: Ich werde den Studierenden aktuelle Probleme und Fälle des Unionsrechts näherbringen. Ich beschäftige mich im Bundeskanzlermat etwa mit dem Brexit und den derzeitigen Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich. Ich will, dass die Studierenden den Kontext verstehen – verstehen, welche Optionen die Akteure hier haben, wie die Verhandlungen tatsächlich geführt werden und was aus juristischer Sicht etwa das Problem mit Nordirland ist. In der Europäischen Kommission habe ich an der Entstehung der Tabakprodukterichtlinie mitgewirkt, dem damals wohl wichtigsten Harmonisierungsrechtsakt. Dies war nicht nur sehr spannend mit Korruptionsvorwürfen und einem Einbruch, sondern wirft auch einige ganz zentrale Fragen des Unionsrechts auf: Was darf die EU? Wie weit geht Regulierung im Binnenmarkt? Wie transparent muss die EU agieren bei der Rechtsetzung? Ich will auch einen Einblick geben, wie Verfahren vor dem EuGH ablaufen, etwa wenn Österreich das erste Mal einen anderen Mitgliedstaat – und dann gleich Deutschland (!) – vor dem EuGH wegen der deutschen „Ausländermaut“ klagt.
REWI: Momentan durchleben wir eine sehr besondere Zeit. Gibt es etwas, das Sie aus dieser für sich persönlich mitnehmen?
Marcus Klamert: Ich denke, die letzten Monate haben gezeigt, dass man zwar auch mit weniger Sitzungen, Reisen und generell persönlichen Begegnungen eine Zeit lang gut arbeiten kann, dass der persönliche Austausch letztlich aber doch unverzichtbar ist. Es hat sich meiner Meinung nach leider auch bestätigt, wie hilflos wir gegenüber bestimmten Krankheiten sind, wie wenig wir immer noch verstehen, wie die Natur und der Mensch „funktionieren“.